Most und Vierkanter in OÖ

Der Vierkanthof gilt wegen seiner architektonischen Qualität und seiner eindrucksvollen Ausmaße als die vollkommenste Gehöftform Österreichs oder sogar der ganzen Welt. So behauptet das Rudolf Heckl in seiner Oberösterreichischen Baufibel.  Nirgends wurde die Idee des regelmäßig geschlossenen, monolithisch wirkenden Gehöfts so perfektioniert wie im oberösterreichischen Alpenvorland zwischen Traun und Enns. Der Landeshistoriker Univ. Prof. Roman Sandgruber bezeichnet das Traunviertel treffend als „Viertel der Vierkanter“. Aber auch alle anderen Landesviertel haben ihren Anteil an der Vierkanterzone mit ihren Streuobstwiesen. Sie greift über die Donau ins Machland bis weit ins Mühlviertel hinauf, und nach Westen franst sie bis zur Ager aus. Das Verbreitungsgebiet erstreckt sich über 11 politische Bezirke mit insgesamt 185 Gemeinden. Die Schwerpunkte liegen jeweils in den Gebieten mit hohem Agrarpotenzial. Die letzte statistische Erhebung im Jahr 1980 erfasste landesweit 9.624 Vierkanfhöfe. Den dichtesten Bestand mit 60% und darüber verzeichneten die Bezirke Linz-Land, Steyr-Land, Kirchdorf und Wels-Land. Deutlich geringer war der Anteil bereits in den Bezirken Gmunden, Perg, Urfahr, Eferding und Freistadt. Weniger als 10% wiesen die Bezirke Grieskirchen und Vöcklabruck auf.

Die Vierkanter sind im wahrsten Wortsinn bodenständig: Aus dem fetten Lehmboden, auf dem sie stehen, sind ihre Ziegel geformt und gebrannt. Im selben Lehm gedeihen rund ums Haus die Birn- und Apfelbäume, deren Früchte zu Most vergoren, den Bauern gesicherten Wohlstand bescherten. Behäbig verwurzelt in der Landschaft, erwecken diese Höfe den Eindruck, als ob sie schon immer hier gestanden wären. Im heutigen Erscheinungsbild ihrer ausgereiften Endstufe sind sie jedoch meist nicht älter als 150 Jahre.

Während man früher die Entstehung des Vierkanters bis auf die Römerzeit und die bayerische Landnahme zurückzuführen vermeinte, definiert ihn die moderne Bauforschung heute als eine eigenständige regionaltypische Hofform, die sich seit der frühen Neuzeit aus dem unregelmäßigen Haufenhof zum geschlossenen Regelhof entwickelt hat. In seiner erst seit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert landschaftsprägenden Ausformung ist er das letzte Glied einer wirtschaftslogistischen Entwicklungskette. Sämtliche für die Bewirtschaftung notwendigen Gebäudeteile (Wohnhaus, Stallungen, Stadel, Schuppen) finden sich optimal organisiert unter einem gemeinsamen Dach vereinigt. Der Begriff „Vierkant“ ist erst 1893 vom Oberösterreicher Gustav Bancalari, einem Pionier der Bauernhausforschung, geprägt worden.

Entscheidende Vorbilder für die Vierkanthof-Bildung waren die im Traunviertel weitum verstreuten Meier- und Zehenthöfe der Klöster St. Florian, Lambach und Kremsmünster sowie der zahlreichen Adelssitze. Diese Wirtschaftshöfe waren größer, komfortabler und ab dem 17. Jahrhundert im Gegensatz zu den gewöhnlichen Bauernhäusern schon in Massivbauweise (Stein und Ziegel) angelegt. Im Urbar der Herrschaft Gschwendt (Neuhofen a.d. Krems) heißt es schon 1660: „Der Meierhof ist schön vierecket gebaut, auf drei Seiten durchaus gemauert, hat ein Stockwerk obenauf mit schöner Stube, Kammer und Traidkästen“. Das war der Prototyp des Vierkanters, wie er dann ab dem 18. Jahrhundert vom begüterten „Florianer Bauernadel“ übernommen worden ist!

Der nachhaltigste Innovationsschub für die Veränderung unserer bäuerlichen Hauslandschaft vollzog sich nach dem Jahr 1848. Die endgültige Befreiung von der Fußfessel der grundherrschaftlichen Untertänigkeit verlieh dem Bauernstand nicht nur ein neues Selbstbewusstsein, sondern ermöglichte ihm erstmals ein autonomes, marktorientiertes und gewinnbringendes Wirtschaften. Hier bot sich den bisherigen „Hörndl- und Körndlbauern“ mit der beginnenden Mostproduktion eine zusätzliche Einnahmequelle.

Der Most, bis dahin nur bäuerlicher Haustrunk, ist durch die beginnende Industrialisierung zum begehrten Volksgetränk für eine neue Konsumentenschicht – die Arbeiterschaft – geworden.  Der volle Mostkeller erwies sich bald als einträgliche Sparbüchse des Landwirts. Im  Schätzungselaborat der KG Fleckendorf aus dem Jahr 1843 heißt es: „Die meisten Besitzungen zeichnen sich mit schönen Obstanlagen aus. Daraus wird guter, und einige Jahre haltbarer Most bereitet, der an die nächsten Wirthe, der guten Qualität halber, leicht abgesetzt werden kann.“ Der norddeutsche Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl bestaunt um 1850 den großen technischen Aufwand bei der damaligen Mostproduktion im Florianer Land: „ Die Früchte werden unter einem großen Stein, der von einem Pferd in Bewegung gesetzt wird, zerdrückt und dann auf Pressen völlig ausgequetscht. In großen Wirtschaften sieht man oft 10 bis 12 solcher Pressen.“

Viele Vierkanter verdanken ihre stolzen Dimensionen nachweislich dem florierenden Mosthandel, der die Baukonjunktur beflügelte. Der überlieferte Spruch „Diese Häuser hat der Most gebaut“ ist durchaus wörtlich zu nehmen! Aufwendiges Bauen ist zum Gradmesser bäuerlichen Repräsentationsbedürfnisses geworden. Der monumentale zweigeschossige Vierkanter dokumentierte augenfällig die Gleichberechtigung des Bauernstands mit Adel und Bürgertum. Dieser Hang zur imposanten Selbstdarstellung gipfelt im größten Vierkanter des Landes, dem 1864 errichteten Zehetnerhof zu Gemmering in der Gemeinde St. Florian. Er steht auf einer Grundfläche von einem Joch. Die Zuschreibung von 12 Toren, 52 Türen und 365 Fenstern führte zur populär gewordenen Bezeichnung „Jahreshof“.

Der Vierkanter in seiner klassischen Ausformung war als optimaler Wohn- und Arbeitsverband für die ökonomischen Verhältnisse einer prosperierenden Agrargesellschaft konzipiert. Für den heutigen EU-genormten Landwirt ist die Nutzbarkeit dieser majestätischen Gebäude allerdings zum Problemfall geworden. Die gewaltigen Baukubaturen müssen auf alternative funktionelle Schienen gestellt und mit neuen Programmen bespielt werden. Vorzeigebeispiele in dieser Hinsicht sind jene mustergültig renovierten Höfe, die sich wieder der traditionellen Obstverwertung widmen und leer stehende Stallungen und Schuppen als gemütliche Mostschänken gastronomisch erfolgreich nutzen.

Dr. Heimo Czerny, OÖ. Mostschänkenführer (2013)